Das vergessene Atelier von Þórarinn Blöndal, Reykjavik

Ich hab in Reykjavik Alexander aus Norwegen kennen gelernt, der sich eines Abends neugierig meinen Truck angeschaut hat. Alexander arbeitet auf der Werft im Hafen und überholt Aggregate von Schiffen. Wir haben losen Kontakt über Whatsapp gehalten und eines Tages meinte Alex: ich bin in das ehemalige Büro im Windenhaus eingezogen, aber dort ist noch das Atelier von einem Künstler.

Mit so merkwürdigen, aber interessanten Kästen aus Holz.

Sollte ich mir besser mal anschauen.

Ein Zimmer hat Alexander als Wohn & Schlafzimmer umfunktioniert. In einem zweiten Raum mit Blick auf die Werft wurde folgendes entdeckt:

Regal im Atelier von Þórarinn Blöndal mit Holzkisten
Ein Holzregal mit 17 Kästen aus Holz. In den Holzkisten haben wir gemeinsam Miniaturen entdeckt: eine Werkstatt, ein Hof, Lagerräume. Die Holzkästen haben Schlitze, um hinein schauen zu können. Zwei Kästen besitzen eine kleine LED Beleuchtung.
Regal im Atelier von Þórarinn Blöndal
Dieses Bild zeigt die gegenüberliegende Seite vom Büro oder dem Atelier, je nach dem wie man es nennen möchte. Bemerkenswert ist dabei ein Regal mit ein Textauszug in einem goldenen Rahmen, ein verblichenes Bild und mehrere Bilder, die als Papierrollen im Regal gestapelt sind.

Genau dieses Regal haben wir nachgebaut als Miniatur in einem der Kästen entdeckt !

nachgebaute Miniaturabbildung von einem Regal im Atelier von Þórarinn Blöndal
Blick durch einen der Schlitze, in einen der Kästen. In der Miniatur Abbildung vom Regal steht wiederum eine Box aus Holz – mit einem Schlitz um hinein zu schauen.

Diese überraschende Entdeckung fand ich ausgesprochen spannend.

Miniatur eines Weihnachtssterns, Kunst von Þórarinn Blöndal
In einem weiteren Holzkasten wurde ein Innenhof nachgebaut, mit einem Weihnachtsstern. So einen Weihnachtsstern hatte ich vorher in voller Grösse aufgestapelt neben dem Holzregal mit den Kästen fotografiert !

Das sind die ineinander gestapelten Dreiecke, ganz oben auf dem ersten Bild.

Die Absicht vom Künstler war es offenbar, Räume in Miniatur nachzubauen. Sechs der Kästen scheinen vollständig oder praktisch fertig zu sein. Ich hab alles so gut dokumentiert, wie es mir möglich war. Alexander und ich waren einer Meinung: das ist etwas sehr besonderes und es wäre schade, wenn das alles eines Tages unbeachtet im Müll landen würde. Die Werft hatte diese kleine Wohnung einfach so an ihn vergeben vergeben ohne Alexander darauf vorzubereiten, in eine Künstlerwerkstatt einzuziehen. Alexander war vorsichtig genug, nur eins der Zimmer wohnlich einzurichten und die Werkstatt unangetastet zu lassen.

Papierrollen mit angehefteten Miniaturbildern, Kunst von Þórarinn Blöndal
Detailaufnahme der eingerollten Bilder im Regal. In den meisten Rollen steckt ein kleines Miniaturbild
Blick in Holzkasten von oben mit Miniaturwerkstatt Kunst von Þórarinn Blöndal
Der „Regal mit Papierrollen“ Kasten auf dem Arbeitstisch am Fenster. In Hintergrund ist die Werft mit einem Schiff, was gerade überholt wird.
Miniaturkunstwerk von Þórarinn Blöndal
Ein weiterer Kasten gewährt den Einblick in eine Werkstatt. Bilder stehen an der Wand, ein Akkuschrauber und anderes Werkzeug liegt herum. Es ist sehr sandig oder staubig. Erneutes Motiv: ein Holzkasten mit Schlitz um hinein zu spähen.
Senkrechter Blick in ein Miniaturkunstwerk von Þórarinn Blöndal
Der gleiche Kasten, von oben betrachtet. Ich hab die Blickrichtung des Betrachters mit einem weissen Pfeil eingezeichnet. Der Künstler arbeitet oft mit Spiegeln, um verdeckte Bereiche wie die grüne Kiste in der Miniaturinstallation sichtbar zu machen.
Miniaturkunstwerk von Þórarinn Blöndal
in weiterer Mikroeinblick in einer der Holzkästen. Ein Arbeitstisch, mit Strassenbild aus Island.
Detailaufnahme einer Miniatur, die eine nachgebaute Miniaturwerkstatt zeigt
Ungefähr so präsentieren sich die Holzkästen, wenn man sich der Aussparung nähert. Eine weitere Werkstatt Scene, erneut mit einer Miniatur Box als wiederkehrendem Thema. Diesmal wie zufällig vor einer rostigen Heizung stehend.

Weitere Beobachtungen in der Künstlerwerkstatt

Ich hab mir einen Vormittag Zeit genommen, um die Künstlerwerkstatt genauer unter die Lupe zu nehmen. Vor allem wollte ich wissen, wer die Miniaturen gebaut hat, zu welchem Zweck und wann die Werkstatt verlassen wurde. Möglicherweise auch, warum sie verlassen wurde.

Veranstaltungsplakat
Den Künstler zu ermitteln war am einfachsten: sowohl auf Plakaten von Ausstellungen als auch auf einem Stempel tauchte der Name Þórarinn Blöndal auf. Übersetzt für meine deutsche Tastatur: Thorarinn Blöndal

Belegt sind drei Ausstellungen zusammen mit anderen Künstlern in den Jahren 2007, 2009, 2010 + 2013.

Fotos der Ausstellung und eine verblichene Todesanzeige
Zwei Bilder mit gelbem und blauen Rahmen
Weitere Fotos der Installation, wahrscheinlich aus München in Deutschland.
Gästebuch oder Skizzenbuch mit aufgeklebten Perlen
Ein besonders schön gestaltetes Skizzenbuch
Kalender, Schmuck und Streichholzschachteln in einer Schublade
In einer Schublade war ein Kalender mit markierten Terminen.

Da ich keinerlei Dokumente gefunden hab die älter als aus dem Jahr 2014 sind gehe ich davon aus, dass die Künstlerwerkstatt aus einem unbekannten Grund vor 10 Jahren verlassen wurde. Seit dem war niemand mehr hier oder zumindest keiner, der irgend etwas wesentlich verändert hätte.

Fee in einer Glaskugel
Ein schönes Detail, auf der Fensterbank …
Schreibtisch von oben fotografiert mit Kiste mit Walfischknochen und schwarz weissen Plakat
Blick auf den Schreibtisch, mit benutztem Werkzeug und Ankündigungen von Ausstellungen
Walfischknochen
„Das sind Knochen von Walfischen“ meinte Alexander sofort zu diesem Fund. Alexander entstammt einer renommierten, norwegischen Walfängerfamilie mit langer Walfangtradition. Er kennt sich auf diesem Gebiet daher aus.

Was nun als nächstes geschehen soll weiss ich nicht. Sicherlich wird Thorarinn einen guten Grund gehabt haben, die Werkstatt zu verlassen. Glück war, dass ich rechtzeitig vor Ort war, um Fotos zu machen bevor einfach alles in den Müll wandert. Möchte er seine aufwändig gestalteten Miniaturen, die offenbar nie in der Öffentlichkeit ausgestellt wurden gar nicht wieder haben ?

Vermutlich ist die Arbeit unvollendet. Aber selbst mit nur vier der sechs fertigen Schaukästen liesse sich bereits eine sehr sehenswerte Ausstellung machen.

Fotos aus dem Windenhaus

Wohnraum ist ist in Reykjavik, Island, sehr knapp und teuer. Wahrscheinlich war das der Grund, das ungenutzte Büro in dem Windenhaus zu einer Künstlerwerkstatt umzufunktionieren.

Schreibtisch und Stuhl in einem Büro mit Blick auf ein Schiff im Fenster
Der Blick aus dem Fenster auf die Schiffe ist majestätisch und pure Inspiration. Hier als Schriftsteller zu arbeiten fände ich gar nicht mal so schlecht. Anstatt immer nur von unterwegs aus irgend was hastig zusammen zu tippen.
Zwei Schiffe im Trockendock auf einer Werft
Auf der Schiffswerft. Die Schiffe werden zur Reparatur mit einer riesigen Winde an Land gezogen, diese haben eine Arbeitslast von mehreren tausend Tonnen.
Türkiser Ledersessel neben Farbeimern
Das Lager mit den Farben. Im Hintergrund hängen Schablonen zum trocknen.
Zahnrad und Stahlseil in einer Maschinenhalle
Das Windenhaus, unter der Künstlerwerkstatt. Armdicke Stahlseile hieven die Schiffe an Land.
Werkzeuge in einer Maschinenhalle
Haben eine spezielle Funktion, aber ich hab vergessen, was es war.
Steuerpult in einer Maschinenhalle aus zwei Drehrädern
Von hier aus wird alles gesteuert.

Aktuell überlegen Alexander und ich, ob man den Künstler kontaktieren sollte oder nicht. Eventuell gibt es daher eine Fortsetzung. Oder die Werkstatt versinkt wieder im Dornröschenschlaf, denn Alexander hat angekündigt nichts anzurühren und alles exakt so zu lassen, wie es ist.

Update im Oktober 2024: kurz nach dieser Entdeckung ist Alexander spurlos verschwunden. Er ist nicht mehr zur Arbeit erschienen und sein Telefon war nicht mehr erreichbar. In dem Apartment fehlte seine Campingausrüstung, aber es wurden mehrere persönliche Gegenstände wie ein Schlüsselbund und Anziehsachen zurück gelassen. Eine Vermisstenanzeige bei der isländischen Polizei, die ich in Absprache mit seinem Arbeitgeber gemacht hab ist ohne Ergebnis geblieben.

Mehr konnte ich nicht tun. So oder so eine der rätselhaftesten Geschichten, die ich in Island erlebt habe.

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